17.09.2015 Zivilkammer

Art. 206 Abs. 2 (Art. 209 – 212) ZPO. Entscheidet die Schlichtungsbehörde über eine Forderung, welche die klagende Partei an der Schlichtungsverhandlung auf CHF 2‘000.00 herabgesetzt hat, verletzt sie den Anspruch auf rechtliches Gehör der säumigen beklagten Partei.

 

 

Sachverhalt:

 

Das Schlichtungsgesuch der Klägerin enthielt ein Rechtsbegehren auf Bezahlung einer Forderung von CHF 3‘056.40. Die Beklagten erschienen unentschuldigt nicht zur Schlichtungsverhandlung. In der Folge reduzierte die Klägerin die geltend gemachte Forderung auf CHF 2‘000.00 und stellte nach Art. 212 Zivilprozessordnung (ZPO, SR 272) den Antrag auf einen Entscheid. Der Amtsgerichtsstatthalter hiess die Klage gut und sprach der Klägerin eine Forderung von CHF 2‘000.00 zu. Das Obergericht hiess die von den Beklagten dagegen erhobene Beschwerde teilweise gut und wies die Sache zur Fortführung des Verfahrens im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.

 

 

Aus den Erwägungen:

 

1. Die Beklagten beanstanden vorab, der Vorderrichter hätte ihnen den Wechsel vom Schlichtungs- zum Entscheidverfahren anzeigen und ihnen Gelegenheit geben müssen, sich dazu zu vernehmen. Er habe einen Überraschungsentscheid gefällt und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

 

2. Die Klägerin wendet dagegen ein, die Vorinstanz habe den Beklagten die Säumnisfolgen mit der Vorladung angezeigt. Dort werde auf Art. 206 Abs. 2 ZPO hingewiesen, wonach bei Säumnis der beklagten Partei die Schlichtungsbehörde nach Art. 209 – 212 ZPO verfahren werde (Ausstellen der Klagebewilligung, Urteilsvorschlag oder Urteilsfällung). Die Beklagten seien damit explizit auf die Möglichkeit eines direkten Entscheids hingewiesen worden. Sie hätten damit rechnen müssen, dass die Klägerin ihre Forderung anlässlich der Verhandlung auf CHF 2‘000.00 reduzieren könnte. Sie hätten es sich wegen ihres Fernbleibens selbst zuzuschreiben, dass sie sich nicht hätten zur Sache äussern können. Das Ausbleiben sei als Verzicht auf ihr rechtliches Gehör zu werten. Es sei widersprüchlich, wenn sie sich im Beschwerdeverfahren nun doch zur Sache äussern wollten.

 

3.1 Bei Säumnis der beklagten Partei verfährt die Schlichtungsbehörde nach Art. 206 Abs. 2 ZPO, wie wenn keine Einigung zu Stande gekommen wäre (Art. 209 – 212 ZPO). Die Art. 209 – 212 ZPO regeln die Klagebewilligung, den Urteilsvorschlag und den Entscheid. Einen Entscheid fällen darf die Schlichtungsbehörde nach Art. 212 ZPO allerdings nur, wenn die klagende Partei einen entsprechenden Antrag stellt. Ein solcher Antrag hat weitreichende Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des Verfahrens. Darum ist die Gegenpartei umgehend darüber zu orientieren, wenn ein Antrag auf Entscheidung gestellt wird, damit sie sich gebührend auf die Verhandlung vorbereiten kann. Dies ist vor allem dann relevant, wenn der Antrag nicht im Schlichtungsgesuch gestellt worden ist (Dominik Infanger in: Karl Spühler et al. [Hrsg.]: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Basel 2013, Art. 212 ZPO N 7).

 

3.2 Da kein Anspruch auf Entscheidung besteht, hat die beklagte Partei ein Interesse daran, ihre Meinung zum Antrag auf Entscheidung kundtun zu dürfen. Ist für den konkreten Streitfall ein umfangreiches Beweisverfahren erforderlich, auf welches der Beklagte angewiesen ist, um den Gegenbeweis oder den Beweis des Gegenteils zu erbringen, so hat er ein Interesse daran, dass die Schlichtungsbehörde den Fall nicht entscheidet, weil das Erkenntnisverfahren vor der Schlichtungsbehörde für einfache Fälle gedacht ist. Die Gegenseite nicht zu Wort kommen zu lassen, käme einer Gehörsverletzung gleich (a.a.O., N 8). Die Stellungnahme der Gegenseite zum Antrag auf Entscheidung ist für die Schlichtungsbehörde auch eine wertvolle Stütze. Erst durch die gegnerische Stellungnahme kann die Schlichtungsbehörde abschätzen, ob ein einfacher Fall vorliegt (a.a.O., N 9).

 

3.3 Mit der Eröffnung eines Entscheidverfahrens wandelt sich die Schlichtungsbehörde zur ersten gerichtlichen Instanz (Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 8. August 2011). Das Obergericht des Kantons Solothurn hat schon in einem Entscheid vom 22. August 2012 unter Bezugnahme auf Urs Egli (in: Alexander Brunner et al. [Hrsg.]: Schweizerische Zivilprozessordnung DIKE-Kommentar, Zürich / St. Gallen 2011, Art. 205 ZPO N 7 f.) festgehalten, dass die strikte Trennung der Verhandlung der Sühnebehörde in einen informellen und bei einem Entscheid in einen formellen Teil wesentlich zur Entschärfung des sich aus der Doppelrolle der Schlichtungsbehörde als Sühne- und Entscheidinstanz ergebenden Konflikts beitragen kann. Die Verhandlung sei daher strikte in einen informellen Teil – das eigentliche Schlichtungsverfahren – und einen formellen Teil – das Entscheidverfahren – aufzuteilen und die Parteien seien über den Wechsel zu informieren, was im Protokoll festzuhalten sei. Dies ist nach diesem Entscheid nötig, weil im Entscheidverfahren die Aussagen der Parteien zu protokollieren sind, mithin das Protokollierungsverbot nach Art. 205 Abs. 1 ZPO nicht mehr gilt. Im Entscheidverfahren sind sodann die allgemeinen Verfahrensgrundsätze und Verfahrensgarantien nach den Art. 52 ff. ZPO, insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör, zu beachten.

 

3.4 Der Antrag auf einen Entscheid kann jederzeit gestellt werden. Er kann auch erst an der Schlichtungsverhandlung gestellt werden. In Streitigkeiten bis CHF 2‘000.00 muss die beklagte Partei stets mit einem Entscheid am Schlichtungstermin rechnen (Brigitte Rickli in: Alexander Brunner, a.a.O., Art. 212 N 6; Dominik Gasser / Brigitte Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, Zürich / St. Gallen 2014, Art. 212 ZPO N 2).

 

4.1 Aus der soeben zitierten Lehrmeinung (oben Ziffer 3.4) ist e contrario zu schliessen, dass die Beklagte bei einem Streitwert über CHF 2‘000.00 nicht mit einem Entscheid der Schlichtungsbehörde nach Art. 212 ZPO rechnen muss. Der beklagten Partei wird das Schlichtungsgesuch zugestellt (Art. 202 Abs. 3 ZPO). Das Schlichtungsgesuch muss nebst der Bezeichnung der Gegenpartei das Rechtsbegehren und den Streitgegenstand bezeichnen (Art. 202 Abs. 2 ZPO), damit die beklagte Partei weiss, was die klagende Partei von ihr will. Auch wenn ein Bedürfnis der klagenden Partei auf einen raschen Abschluss des Verfahrens anzuerkennen ist, stellt es doch auch ein widersprüchliches Verhalten dar, wenn sie zuerst ein Rechtsbegehren auf eine über CHF 2‘000.00 liegende Forderung stellt, um dann auf den CHF 2‘000.00 übersteigenden Teil zu verzichten, wenn die beklagte Partei nicht zur Schlichtungsverhandlung erscheint und sich deshalb nicht gegen einen Entscheid über den tieferen Betrag äussern und zur Wehr setzen kann. Selbst wenn die klagende Partei in guten Treuen in ihrem Schlichtungsgesuch einen über CHF 2‘000.00 liegenden Betrag gefordert hat, haftet einem solchen Vorgehen doch der Beigeschmack eines «Buebetricklis» an. Schon dies zeigt, dass das Missbrauchspotential doch ziemlich gross ist. Zudem bestehen für säumige Beklagte mit einer gültig angedrohten Ordnungsbusse andere Sanktionsmöglichkeiten (zur Publikation vorgesehenes Urteil des Bundesgerichts 4A_510/2014). Eine Verurteilung zur Bezahlung eines Betrages von CHF 2‘000.00, die möglicherweise durch die fehlende Teilnahme der beklagten Partei begünstigt worden ist, stellt keine sachgerechte und verhältnismässige Säumnisfolge dar. Es trifft zwar zu, dass die beklagte Partei, die unentschuldigt nicht zur Schlichtungsverhandlung erscheint, nicht besonders schutzwürdig ist. Dass sie aber deswegen um sämtliche Orientierungs- und Äusserungsrechte, die erst durch die nachträgliche Herabsetzung des Forderungsbetrages und den allenfalls erst an der Verhandlung gestellten Antrag auf eine Entscheidung entstehen (oben Ziffer 3.1 und 3.2), gebracht wird, ist eine übertriebene Härte. Ein Entscheid der Schlichtungsbehörde über eine Forderung, die ohne Orientierung der beklagten Partei auf CHF 2‘000.00 herabgesetzt wurde, verletzt somit deren rechtliches Gehör.

 

4.2 Zum selben Schluss kam auch das Obergericht des Kantons Zürich in seinem Urteil vom 6. Mai 2014. Dieses hat in seinem Entscheid folgendes ausgeführt:

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Friedensrichter, wäre der Beklagte zur Verhandlung erschienen, mit dessen Einverständnis über den reduzierten Forderungsbetrag von Fr. 2‘000.00 hätte entscheiden dürfen. Bei Säumnis des Beklagten durfte er dies nicht. Der Beklagte war für eine Fr. 2‘000.00 übersteigende Forderung vorgeladen worden (act. 4). Aufgrund der beschränkten Entscheidkompetenz des Friedensrichters durfte er sich darauf verlassen, dass im Säumnisfall kein Sachentscheid erginge, sondern dem Kläger eine Klagebewilligung ausgestellt würde, allenfalls den Parteien ein Urteilsvorschlag unterbreitet würde (Art. 210 f. ZPO). Indem der Friedensrichter ein Urteil fällte, verletzte er sowohl die Grenze seiner Entscheidkompetenz als auch den Gehörsanspruch des Beklagten. Der Umstand, dass das insoweit unvollständige und missverständliche Vorladungsformular des Friedensrichters bei Säumnis des Beklagten unabhängig von der Höhe der Forderung einen Entscheid als möglich erscheinen lässt, ändert hieran nichts (act. 4 S. 2).

 

Dieser Entscheid hat in der Lehre bereits Zustimmung gefunden. Insbesondere wurde betont, der gute Glauben einer Partei in die Gültigkeit und den Wortlaut der ihr zugestellten Vorladung müsse geschützt werden und eine Partei müsse über jegliche Änderung im Verfahren – wie die Wandlung von der Schlichtungs- zur erstinstanzlichen Entscheidinstanz – vorgängig informiert werden (ius.focus 2014 Nr. 238).

 

4.3 Auch im vorliegenden Fall gibt die den Beklagten zugestellte Vorladung die Regelung des Art. 206 Abs. 2 ZPO wieder und enthält zusätzlich die Ergänzung «Ausstellen der Klagebewilligung, Urteilsvorschlag oder Urteilsfällung». Das mitgeteilte Rechtsbegehren lautet auf eine Forderung von CHF 3‘056.40. Ein Entscheid über eine Forderung mit diesem Betrag übersteigt aber die Kompetenz der Schlichtungsbehörde. Die Beklagten wurden weder über den Antrag der Klägerin auf einen Entscheid orientiert noch konnten sie sich zum Entscheid der Schlichtungsbehörde äussern, ob sie angesichts der Kann-Vorschrift ein Urteil fällen will oder soll. In der Folge konnten sie sich auch im eigentlichen Entscheidverfahren nicht äussern. Nicht zuletzt erging der Entscheid des Vorderrichters auf einer ganz anderen rechtlichen Grundlage. Im Schlichtungsgesuch stützte die Klägerin ihre Forderung auf die Haftung des Bestellers nach Art. 377 Obligationenrecht (OR, SR 220). Im Urteil hingegen wird ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung zugesprochen. Dieser Rechtsgrund war vorher kein Thema und wurde auch von der Klägerin nicht angerufen. Mit dessen Erheblichkeit konnte im konkreten Fall nicht gerechnet werden. Auch insofern wurde der Anspruch auf rechtliches Gehör der Beklagten verletzt.

 

5. Ein Entscheid in der Sache, was die beantragte Klageabweisung bedeuten würde, steht bei dieser Sachlage nicht zur Debatte. Vielmehr ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen und das Verfahren ist ab dem von der Klägerin gestellten Antrag auf einen Entscheid weiterzuführen. Das Verfahren ist auf diesen Stand zurückversetzt. Nun ist den Beklagten Gelegenheit zu geben, zu diesem Antrag Stellung zu nehmen. Anschliessend kann die Vorinstanz das Verfahren zu Ende führen. Weitere Anweisungen, wie sie in den Eventualanträgen der Beklagten verlangt werden, sind der Vorinstanz indessen nicht zu erteilen. Sie ist weder anzuweisen, eine Klagebewilligung auszustellen, noch ist sie anzuweisen, eine neuerliche Verhandlung durchzuführen, zumal es für eine weitere Schlichtungsverhandlung ohnehin der Zustimmung der Parteien bedarf (Art. 203 Abs. 4 ZPO). Die Vorinstanz wird – nach Anhörung der Beklagten – zu entscheiden haben, ob sie die Klagebewilligung ausstellt oder ob sie ins Entscheidverfahren wechseln will. Dieser Entscheid ist von der Schlichtungsbehörde selbst zu treffen. Auch die Eventualanträge der Beklagten können somit nicht vollumfänglich gutgeheissen werden. Die Beschwerde ist demnach nur insofern teilweise gutzuheissen, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Fortführung des Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.

 

Obergericht Zivilkammer, Urteil vom 13. August 2015 (ZKBES.2015.63)